Memoiren eines Prüflings
Essay —
Wie man eine Abschlussprüfung übersteht oder zumindest nicht komplett den Verstand verliert.

Die glorreiche GDL rief auf, Deutschland lahmzulegen. Das hat sie nie gesagt und noch weniger getan, aber das Trommelfeuer der öffentlichen Meinung ließ es für einen kurzen Moment so scheinen.
Prüfling 99553 hingegen steht auf – beinahe zu spät – und setzt sich zu einem Stahl- und Betonbauer ins Taxi. Das morgendliche West-Berlin ist wunderschön. Am Görlitzer Bahnhof winkt uns ein sympathisch aufgekratzter Typ mit einer Flasche Henessy (halbvoll) zu. Würde es nicht um alles™ gehen, man würde mittrinken wollen. Einige Kilometer später grüßt das Aquarium in voller Infatilität mit überdimensionalen Plastikwindfischen, die Dingsbumskirche wurde entweder vom Schiss einer gigantischen Taube getroffen, oder aber Ziel einer Farbbombe. Goutieren könnte man beides.
I
Am ICC angekommen. Eine kleine Riesenmenge Mitprüflinge ist schon da. Der Druck einer Abschlussprüfung scheint selbst Mediengestalter*innen zu pünktlichen Menschen zu machen. Die einen Puls 5000 die anderen lieber saufen. Sehr zur Freude der anderen ist ins ICC eine Schankwirtschaft «Alt-Berlin» eingebaut. Sehr zur Ernüchterung jedoch Mittwochmorgen um 7.45 Uhr geschlossen.
Nachdem niemand der Anwesenden eine spontane Prüfungskolik entwickelt hat, also auch niemand die letzte Möglichkeit zum Rücktritt von der Prüfung wahrnehmen möchte, fällt der Startschuss. Es entfällt der Schuss. Es ist die salbungsvolle Stimme der Vorsitzenden des Rates der Prüfungsausschüsse, die elektronisch verstärkt durch Halle 10.2 der Messe Berlin hallt. Halle 10.2 ist ihres Zeichens für unsere doch überschaubare kleine Riesenmenge angehender Mediengestalter*innen ein bisschen überdimensioniert.
Teil 1: Wirtschaft und Soziales. Der Prüfungsinhalt an sich wurde entweder nicht verstanden oder Prüfling 99553 schreibt zu schnell. Als die schon bekannte salbungsvolle Stimme erneut durch die Halle schallt und die Halbzeit verkündet, erklärt Prüfling 99553 gerade den Reallohn und löst damit die letzte Aufgabe.
Immerhin bleibt so Zeit für die Memoiren. WiSo geschafft.
Pause.
II
Eine Vierstelstunde vergeht wie zehn Minuten, wenn es nur zehn Minuten sind. Das Uhrwerk IHK rattert unaufhörlich und kennt keine Verspätungen.
Prüfungsteil 2: Konzeption und Gestaltung. Prüfling 99553 schwimmt. Zum Glück hat er das Seepferdchen gemacht und einige Jahre später mit Müh und Not auch Bronze. Schwimmen ist wie Fahrrad fahren, das verlernt man nur, bis man zehn Minuten im Wasser war. Danach geht es wieder und mit lässig-verkrampften Zügen gleitet der Kugelschreiber durch die Ströme des Gehirns. Zugegebenermaßen: Diese Metapher ist auf halbem Wege verunglückt.
Vorwärts geht es jedenfalls. Die paar Brocken Wissen, die auf dem Weg zum Hexenhaus Lohnarbeit liegen, dürften reichen.
Von Kerning hat man schließlich schon mal gehört (Müsli). Zwischendurch ein Plakat und 3 Logos abgewatscht. Dominanz durch Untersicht hergestellt und … tja. Nur 5 Minuten nach Ende des Prüfungsteils ist schon wieder alles weg. Schwimmen muss man eben nur können, solange man auch im Wasser ist. Trockenschwimmen sieht nicht nur bescheuert aus, es bringt eine*n auch nicht vorwärts. Und das ist das Ziel. Honecker wäre stolz auf Prüfling 99553. Prüfling 99553 schreibt gemächlich diese Memoiren, diese Unmittelbarkeit des Eben. Jetzt ist vorbei.
Die letzten fünf Minuten rattern. Das Prüfungsfachpersonal an den Aufsichtstischen sitzt noch ruhig. Aber in jedem Moment kann die salbungsvolle Stimme der Vorsitzenden des Rates der Prüfungsausschüsse wieder durch Halle 10.2 der Messe Berlin schallen und zum Niederlegen der Stift auffordern. Klingt nicht mal spannender, als es ist.
Man sollte nicht vergessen, dass man es hier mit einer Institution zu tun hat und es das Wesen einer jeden Institution ist, Spannung nur im Niedergang, nicht im Normalgang der Dinge zu erzeigen.
Nebenbei: Man hat es mit einer Institution zu tun, die nicht mal weiß, wie viele Tische und Stühle sie aufstellen muss und trotz konsequenter Übermöbilisierung eine Halle anmietet, die 50 % zu groß und 80 % zu zugig ist.
Pause.
III
Ja, Panik. Das Medienproduktionswasser ist kalt und schlammig. Schockschwerenot und mein lieber Scholli.
Nach dem Anfang geht es irgendwie weiter. Der Anfang war das Ende, also das Ende der Aufgaben. Punkte zusammenklauben. Wer hätte gedacht, dass Farbseperaration und Netzwerkkonfiguration zu Stolpersteinen werden? Rhetorische Frage.
Zum Glück hat Prüfling 99553 seine Schwimmflügel dabei, ein lustig assoziierendes Gehirn. Weiter, immer weiter. Sinn und Unsinn schreiben. Denn: «Wer schreibt kann verlieren, wer nicht schreibt hat schon verloren.» (Che Offermann).
Kurzer Backspin: IHK als Institution. Natürlich ist der Fachinformatiker in der Beispielaufgabe ein Typ und die Frau (immerhin, könnte man unken, immerhin gibt es eine) Bürogehilfin. Lieber ZFA, liebe IHK, bitte verklagt mich nicht, weil ich hier Details der Aufgaben verrate. Ich versuche doch nur, mir die Panik vom Leib zu schreiben.
Apropos Panik. Das durch die klaffenden Ozeane des Nichtwissens in Aufruhr versetzte Gehirn skizziert die Inseln des Wissens in sogenannter Windeseile. Also: Schon wieder noch ohne Ende Zeit.
Die erbarmungslos salbungsvolle Stimme der Vorsitzenden des Rates der Prüfungsausschüsse ruft die letzten zwanzig Minuten aus. In Halle 10.2 der Messe Berlin klappert es produktiv. Hundert Hirne mit hunderten ganz individuellen Wissenslücken. Würden all diese Lücken Walzer tanzen, wäre endlich etwas los. Also nicht, sind schlußendlich Lücken. Aber immerhin. Die Aufsichtsperson von Block B hat unterdessen zu viel gegrinst, sein Handy macht nicht mehr mit. Strom muss her.
In der Schule hätten ab diesem Moment alle gespickt, abgeguckt, die seit Wochen vorgefalteten Papierflieger in einer Wolke des Ingenieurversagens empor steigen lassen. Die Tische (Modell «Rückentod») stehen allerdings zu weit auseinander, Schmierpapier durfte nicht mit eingeführt werden.
Prüfling 99553 gehen unterdessen Witz – ohnehin nur Galgenhumor, im Falsett am Schafott geträllert – und Themen aus.
«Sie haben noch zehn Minuten Zeit» verkündet da die körperlose, nichtsdestoweniger salbungsvolle, Stimme der Vorsitzenden des Rates der Prüfungsausschüsse aus der Einwegsprechanlage. Zehn Minuten. Das sind sechshundert Sekunden. Ein Witz, eigentlich. Aber in einer witzlosen Situation. Also Spott, für die Mitprüflinge, die noch schreiben, oder Verkündigung der Ewigkeit.
Die entschlossenste Bewegung des Tages ist allseits das erlösende Streichen zweier Aufgaben pro Fachbereich nachdem man sich durch zehn andere gedacht hat.
Daraus könnte man sicher eine formidable Fabel über den Zustand des bürgerlichen Bildungssystems machen. Aber Prüfling 99553 hat so langsam keine Lust mehr, etwas abzuleiten oder herzudenken. Denken ist Sport. Sport wiederum Mord. Abschlussprüfung also kanalisierter Massenmord. USA, hilf uns doch, IHK gibt’s immer noch!
Tiefpunkt erreicht. Ab jetzt geht es wieder aufwärts.
Pause.
IV
Im Kommunikationsteil lernt man noch was. Gummiadler ist zum Beispiel ein dudenzertifiziertes Wort. Was soll das bedeuten? ugs. scherz. für [zähes] Brathähnchen.
Außerdem: Man schreibt «ineinander» mit dem folgenden Verb in der Regel zusammen, wenn es den gemeinsamen Hauptakzent trägt. Ach so.
Das fundamentale Problem: Man lernt es, weil der Aufgabenteil in plusminus, konservativ geschätzt, einem Viertel der zur Verfügung stehenden Zeit abgearbeitet ist, die Stimme der Vorsitzenden des Rates der Prüfungsausschüsse aus dem Off aber darum gebeten hat, auch den Rest der Zeit abzusitzen.
Gar nicht so sinnentleert, das muss zugegeben werden. Denn erst, wenn die Zeit an ihr Ende gekommen ist, gibt es Geschenke. Lausige Geschenke. Hausarbeit. Aufgaben. Kann man nichts machen, muss man durch, so ist das Leben. Es winkt ein Zertifikat. Ein Stempel für den Lebenslauf. Da will man nicht so sein.
Weiter im Text. Duden: koppheister (nordd. für kopfüber); koppheister schießen (einen Purzelbaum schlagen); koppheister gehen (untergehen, zugrunde gehen).
Wie gesagt, man lernt noch was. Sprache sozusagen als Frischluftreservoir in dieser – situationistische Student*innen sagten es schöner, als ich es kann – «Zisterne, die sie Denken nennen, in der die Strahlen des Geistes verfaulen wie Stroh». Bam, oida! (Ziemlich sicher nicht dudenzertifiziert.) Dafür aber auch ziemlich sicher der einzige bayerisch infizierte Ausspruch, der sich als moderne Euphonie halten kann. Euphonie, die (Wohlklang). Da muss auch der Duden mal zurückstecken. Sorrylette! Unwort. Sollte niemals benutzt werden. Der Gebrauch hier dient einzig und allein dem Zweck, zu verdeutlichen, wie schnell auch das schönste Frischluftreservoir den zarten Duft von Gülle annehmen kann.
Zum Ausgleich ein schönes Wort: Myokard. Ein Herzmuskel. Wohlklingend und wichtig. Eine gute Kombination.
Die letzte Viertelstunde des Verwaltungsaktes Theoretische Abschlussprüfung ist unterdessen angebrochen. Bilanz: Unspektakulär. Irgendwie. Eben ein Verwaltungsakt, institutionalisierte Normwissensabfrage. Braucht man nie wieder, aber danke für die Einladung. Melden Sie sich nicht bei mir, ich melde mich bei Ihnen.
An dieser Stelle könnte man gut «Ende» schreiben. Aber das bestimmt nicht das Individuum, das bestimmt die so vertraut gewordene salbungsvolle Stimme der Vorsitzenden des Rates der Prüfungsausschüsse. Omnipräsent dank Saalbeschallungsanlage.
Es geht also noch ein Stückchen weiter. Das muss es auch. Egoexpress. Kennt man. Mag man.
Vorwärts, weiter, up. Honecker, Egoexpress, Yazz. Triumvirat der schönen Lügen im Namen des Existenssicherungsoptimus’.
Ende.